NEU Radtour 800 Meter unter der Erde - hier klicken:

Werra: Von Merkers zur Salzkristallgrotte

Mittwoch, 4. März 2020

Werra: Vom Hexentanzplatz zum Monte Kali

Werra-Tag 2b: Verzückt und versalzen


gefahren im: Oktober 2021
Start & Ziel: Bahnhof Wildeck-Hönebach/Hexentanzplatz, Heringen
Länge: 3,5 km (Anfahrt vom Bahnhof 6,5 Kilometer)
Werraquerungen: 0
Ufer: links
Landschaft: weißgrauer Salzberg in strahlendem Herbstwald
Wegbeschaffenheit: steinhartes oder pulveriges Salz
Steigungen: am Anfang so richtig
Wetter: goldene Herbstsonne
Wind: kaum
Highlight: Blick nach Osten
Größte Hürde: steiler Abstieg auf rutschigem Salzsand
Zitat des Tages: "Glückauf und ich hoffe, Sie denken daran: Wir machen hier Sachen, die sind nicht so gut, aber wir machen auch Sachen, die sind gut."
- unser Haldenführer und Bergmann im Ruhestand -

1 Woche zuvor Ich buche uns telefonisch im Bergbaumuseum Heringen eine Salzführung.

12:40, Bahnhof Wildeck-Hönebach Wir steigen aus der Bahn und radeln die steile Landstraße hoch.

14:02 Wir biegen auf einen Waldweg ab. Dort steht ein bemerkenswert hässlicher Aussichtsturm in Form einer seltsamen Betonskluptur mit Wendeltreppe. An diesem Sonntagvormittag besteigen ihn so einige Spaziergänger. Kaum zu glauben, dass er früher noch viel beliebter gewesen sein soll. Andererseits herrscht auch besonders traumhaftes Aussichtswetter. Wir können weit über das Werratal und den Rhäden blicken. Stahlzacken weisen auf diverse Dörfer und die Wartburg hin, die nur 20 Kilometer entfernt zu erkennen ist. Unser Ziel ist deutlich näher, verbirgt sich jedoch größtenteils hinter Bäumen.

1965 Der westdeutsche Bundesgrenzschutz baut den Aussichtsturm Bodesruh. Er dient dem Tourismus, genau wie der Turm bei Duderstadt, obwohl er komplett anders aussieht. Anders als die DDR mit ihren einförmigen Beobachtungstürmen förderte der BGS wohl eine gewisse architektonische Vielfalt. Das war wohl die berühmte Freiheit des Westens. Naja, das und die Tatsache, dass DDR-Bürger von ihren Türmen erschossen wurden, während die BRD-Bürger von ihren Türmen beobachten konnten, wie Leute erschossen wurden.


14:30 Wir kommen vorbei an mehreren Holzhütten, die laut Schild eine Steigleitung enthalten. Nur die letzte Steigleitung ist nackt.

14:34, Hexentanzplatz Vier Waldwege kreuzen sich am letzten öffentlich zugänglichen Platz. Er ist mit Bänken und Infotafeln ausgestattet, damit die Leute möglichst hier bleiben und sich nicht allein weiter vorwagen. Viele Menschen in gelben Westen haben bereits ihr Auto abgestellt und laufen herum.

1521 Martin Luther läuft auf seiner Flucht zur Wartburg hier vorbei. Er konnte sich vermutlich nicht mal ansatzweise vorstellen, was für ein Berg hier eines Tages entstehen würde. Was er wohl davon gehalten hätte?

14:42 Ein älterer Herr in roter Weste geht herum und hakt unsere Namen auf einer Liste ab. Es handelt sich um einen Bergmann im Ruhestand, der Haldenführungen durchführt. Er kassiert fünf Euro, die dem Bergbaumuseum Heringen zugutekommen.
An diesem herrlichen Tag haben sich so viele Neugierige angemeldet, dass wir coronabedingt in drei Gruppen aufgeteilt werden.


14:50 Es geht los! Durch das Tor schlüpfen wir auf das Gelände der K+S GmbH.


14:52 Ich muss meinen Fahrradhelm gegen einen weißen Bergmannshelm tauschen. Kurz hinter dem Tor erwartet uns der Aufstieg.

1776 Die K+S GmbH erfindet das Elektrostatische Trennverfahren. Mithilfe von Strom können ganz schnell die Kali- und Magnesiumsalze aussortiert werden. Die werden für Dünger, Medikamente oder die chemische Industrie gebraucht. Wenig später wird der größte Salzberg Deutschlands genehmigt und fängt rasend schnell zu wachsen an.
Zwei Drittel vom Salz fallen beim Elektrostatischen Trennverfahren durch und werden als nutzlos eingestuft, quasi Müll. Was macht man damit?
Das kommt drauf an, ob das Salz in Wasser aufgelöst oder fest ist. Durch das Elektrostatische Trennverfahren fällt zum Glück deutlich weniger flüssige Salzlauge an als früher, aber immer noch etwas. Die landet erst einmal in großen Sammelbecken (hinten im Bild). Von da aus bieten sich folgende Optionen:
  1. Per Pipeline ins Meer. Ist teuer und aufwändig, weshalb die Pläne für eine Pipeline von hier zur Nordsee inzwischen aufgegeben wurden.
  2. In den Untergrund verpressen. Versalzt die Werra indirekt ein bisschen.
  3. Direkt ab in die Werra damit! Durch Möglichkeit drei wurde die Werra zu einem der am stärksten belasteten Gewässer Europas.

1950-1989 BRD und DDR haben jeweils zwei Kalibergwerke an der Werra. In der DDR gibt es keine Grenzwerte, wie viel man in einen Fluss kippen darf. Also wird so viel wie möglich reingehauen. Vorher lebten 60 bis 100 Tierarten in der Werra, jetzt nur noch drei, darunter die Groppen. Die wohnen normalerweise im Pazifik.

2012 Der Grenzwert von 2500 Milligramm pro Liter, der in der BRD seit 1942 als kriegsbedingte Ausnahme gilt, läuft aus. (Bei Niedrigwasser wird er ohnehin schon nicht eingehalten.) Mittlerweile ist die Aktiengesellschaft K+S für alle Kalibergwerke zuständig, und wie man sich denken kann, wird die auch nicht von allein zum Umweltschützer, wenn man ihr nicht auf die Finger schaut. K+S möchte das Zeug gern für weitere 700 bis 1000 Jahre so reinkippen und hat auch noch eine Pipeline zur Werra gebaut, durch die Salzwasser von einem anderen Bergwerk kommt. Der Kompromiss ist ein Vier-Stufen-Plan, laut dem die Abwässer langsam reduziert werden und das Abfallsalz doch noch irgendwie verwertet und verkauft wird.

2075 Ich bin längst Rentner und die Werra hat Süßwasserqualität - sofern man dem Vier-Stufen-Plan glaubt. Oder aber die K+S sagt: "Ach ja, der Plan, den haben wir in den letzten 60 Jahren ganz vergessen! Jetzt schaffen wir das leider nicht mehr." Wählen Sie selbst, welche Zukunft Ihnen wahrscheinlicher erscheint.

15:04 Okay, für Salzlauge sehen die Möglichkeiten alle nicht so toll aus. Und wie sieht es mit den Möglichkeiten für das feste Salz aus? Ein bisschen besser. Das Zeug könnte man:

  1. Wieder runter ins Bergwerk bringen. Das wäre doppelt so teuer, weshalb das Salz der K+S auf dem Weltmarkt nicht mit den Russen und Kanadiern mithalten könnte, erklärt uns der Führer. Bei anderen Bergwerken wird das gemacht, weil die Schwerkraft das Salz automatisch runterrieseln lässt. Aber hier sind die unterirdischen Gänge waagerecht, da rieselt es nicht von alleine.
  2. Zu Bergen aufschütten. Diese Möglichkeit Nummer 2 ist es, die wir uns heute ganz genau ansehen. Sie hat den Nachteil, dass die Berge das Grundwasser ein bisschen belasten, viel Ackerland blockieren und laut manchen Leuten nicht schön aussehen. Ein Vorteil ist, dass die Berge laut anderen Leuten sehr beeindruckend und auf ihre Weise wunderschön sind. Wir tendieren zur zweiten Ansicht.
  3. Verkaufen. Ein Mitglied unserer Gruppe fragt, wieso das nicht einfach in den Supermarkt als Kochsalz geliefert wird. Im Prinzip ist das ja dasselbe Zeug, Natrimchlorid halt.
    "Naja, Sie bezahlen im Supermarkt 60 Cent für ihr Salz. Wenn wir das hier reinigen und abfüllen würden, müssten Sie 1,4 Euro bezahlen." Anders als bei einem Steinsalzbergwerk ist das Zeug aus dem Kalibergwerk nicht von Natur aus so rein, dass es die gesetzlichen Vorgaben erfüllt.
    Dennoch, so abwegig erscheint mir diese Lösung nun auch wieder nicht. Immerhin bezahlen die Leute auch mehr für Produkte aus recyceltem Mikroplastik, das aus dem Meer gefischt wurde. Wobei Hiermit retten Sie den Ozean natürlich etwas überzeugender ist als Hiermit machen Sie den komischen Salzberg in ihrer Gegend etwas kleiner und geben ein paar Hektar für irgendeinen Bauern frei. Da wäre es vermutlich leichter, die Salzlauge zu vermarkten, die in die Werra gekippt wird. Hiermit retten Sie die Werra. Aber was könnte man mit der Plörre machen?
1990 Nach der Wende entsteht ein neues Bergwerk in Heringen. Es wird mit anderen Bergwerken verbunden, aber nur durch ein kleines Loch für ein Förderband, damit die Gefahr von Wassereinbrüchen nicht steigt.
Das Bergwerk hat zwei Schächte. Der, wo die Bergleute runterfahren, liegt ein Stück entfernt im Wald. In dem weißen Gebäude, das wir direkt vor uns sehen, kommt Zeug aus der Tiefe hoch, das nicht unter der Erde sein soll, nämlich giftige Gase - und Salz. Das Salz landet auf einem Förderband. (Das Gas nicht. Das wäre auch schwierig.) Pro Stunde fahren 1000 Tonnen Salz vorbei.

1998 Erst acht Jahre später wird den vielen neugierigen Besuchern gestattet, ihren Fuß auf diesen außergewöhnlichen Ort zu setzen.


15:06 Wir steigen einen Zufahrtsweg rauf. Er ist steil. So richtig steil. Neben uns rattert das 1,3 Kilometer lange Förderband lautstark vor sich hin.
Unser Führer hingegen könnte gerne etwas lauter sein. Es ist im Grunde nicht möglich, ihn zu verstehen und gleichzeitig den Corona-Mindestabstand einzuhalten.
Der Berg wird Kalimandscharo oder Monte Kali genannt - anfangs scherzhaft, aber inzwischen ist das mehr oder weniger der offizielle Name. Nur wer seine Mitmenschen langweilen will, spricht von einer Abraumhalde.


15:16 Wir erreichen das Ende des Aufstiegs, so langsam wird der Boden unter unsern Füßen wieder waagerecht. Die Aussicht ist grandios. Wir können bis zur Wasserkuppe gucken. Deshalb bekommen wir zwischendurch noch erklärt, welche Gebirge es hier so gibt und welche Wanderwege darin empfehlenswert sind. Muss ja nicht immer alles mit Bergbau zu tun haben.
Aus der Nähe sieht der Berg längst nicht so strahlend weiß aus, sondern stellenweise ganz schön grau. Ein bisschen wie Schneematsch am Rande einer Hauptverkehrsstraße.


15:17 Wir haben Anweisung erhalten, keine Mitarbeiter des Bergwerks zu fotografieren. Die sind wegen der umweltschädlichen Auswirkungen ihres Berufs so unbeliebt, dass sie öffentliche Anfeindungen fürchten. Es ist extrem einfach, sich an diese Regel zu halten. Nur ein einziges Mal fährt einer im Auto vorbei. Alles andere läuft weitgehend automatisch.
Die Umweltprobleme seines ehemaligen Arbeitgebers verschweigt uns der Bergmann nicht, sondern er geht ausführlich und möglichst neutral darauf ein. Das überrascht mich.

15:18 Das Förderband beginnt sich aufzuspalten. Ein Teil des Salzes sackt durch eine Art Trichter abwärts. Das Salz ist bereits angefeuchtet, damit der Berg auch schön zusammenklebt und fest wird. Sonst würde der ja niemals Wind und Wetter standhalten. Damit wäre eine weitere Frage beantwortet, die ich mir gestellt habe, seit ich zum ersten Mal solche Berge aus der Ferne gesehen habe.
Dieses Anfeuchten hat aber auch einen Nachteil: Würde die Anlage stillstehen, wäre nach nur 20 Minuten alles katastrophal verkrustet und verstopft.


15:20 Nun treten wir ein in eine Art Mondlandschaft, die mich entfernt an ein Skigebiet erinnert, mit Fließbändern statt Liften. Auf dem Boden liegt zum Teil ziemlich viel loser Salzsand, der sich beim Durchlaufen nach einer Mischung aus Strandsand und Kunstschnee anfühlt.
Das Plateau ist dermaßen riesig, dass wir zunächst überhaupt kein Ende sehen. Das weitverzweigte Förderband bringt das Salz überallhin, ab und zu wird es aber trotzdem mit dem Bagger verteilt. Eine Art Tunnel führt unter dem zentralen Band hindurch. Er bietet sowohl für Bagger als auch für Besuchergruppen genug Platz.
Vermutlich könnte man hier stundenlang herumlaufen, doch die Führung soll ja nur 1,5 Stunden dauern. Unser Führer bringt uns an zwei besondere Aussichtspunkte an zwei gegenüberliegenden Seiten des Bergs.


15:28 Wir begutachten die waldreiche Aussicht nach Westen, wo die Grenze zur DDR verlief. (Ja, von hier aus gesehen war die DDR im Westen. Die verrückte Werra-Grenze halt.) Unser Führer empfiehlt uns diese Stelle, um ein Foto zu machen, was wir auch sofort alle tun. Die Flanken des Monte Kali formen einen ausgesprochen fotogenen, dreieckigen Einschnitt, dem meine Kamera nicht gerecht wird.
Das Salz bildet eine Art Geländer. Es lassen sich zwar problemlos ein paar Salzbröckchen abbrechen, doch insgesamt macht es einen stabilen Eindruck.


15:34 Anschließend laufen wir unterm Förderband durch zur anderen Seite.

15:39 Hier hat der Salzberg besonders eigenartige Formen angenommen. Das sieht ja aus wie ein Thron aus Salz! Und wieso ist das da hinten so schwarz, ist das normale Erde? Ich vergesse, danach zu fragen.
Im Osten sind deutlich mehr Häuser über die Landschaft verteilt. Hier erstrecken sich die Stadtteile von Heringen, außerdem sehen wir weitere Industrieanlagen des Kalibergbaus und die Sammelbecken für die Salzlauge.


15:44 Zuletzt bekommen wir gezeigt, wo die nächste Erweiterung des Monte Kali hinsoll. Es ist dem Salzberg verboten, höher als 520 Meter über den Meeresspiegel zu wachsen, denn das ist die übliche Höhe der Mittelgebirge rinsherum. Und die hat er mit 515 Metern fast erreicht. (Davon sind 240 Meter Salz.) Ab und zu schrumpft der Berg ein bisschen, weil das Salz zusammengedrückt wird. Dann kann wieder was obendrauf gekippt werden. Aber das reicht nicht, um alles loszuwerden.
Daher wächst der Berg vor allem in die Breite und schluckt immer mehr Felder. Schon jetzt wird das nächste Gebiet mit Ton zugeklebt, damit da in Zukunft Salz drauf kann und es nicht so stark in den Boden sickert.


16:10 Jetzt müssen wir das steile Stück nur noch wieder runter. Aus irgendeinem Grund nehmen wir dafür nicht die feste Straße vom Hinweg, sondern einen anderen Weg, der ein paar Meter entfernt parallel nach unten führt. Im Grunde ist das nur die Spur eines Fahrzeugs mit sehr dicken Reifen. Die haben im Salzsand tiefe Abdrücke hinterlassen. Von denen ist nach unserem Durchmarsch kaum noch etwas zu erkennen: Unter unseren Füßen rutscht das Zeug weg und zieht uns abwärts. So legen wir 180 Meter Höhenunterschied in 1,4 Kilometern zurück.

16:29 Als wir nach diesem abenteuerlichen Abstieg unten ankommen, sind wir doch ganz froh.

17:12, Bahnhof Wildeck-Hönebach Da sich das gastronomische Angebot in Hönebach auf einen Outdoor-Grillstand bei eisiger Kälte beschränkt, fahren wir zwei Stationen weiter nach Obersuhl, um zu essen und zugleich die Zeit herumzukriegen, bis endlich ein Zug in die Gegenrichtung kommt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen