Ereignisse einer Eder-Expedition
2. Tag: Das Edertal
Am Bahnhof Frankenberg stoße ich auf ein einsames Eisenbahngleis, auf welchem gelegentlich sogar ein Zug fährt. Ich folge ihm über eine schmale Brücke...
Nun passiert die Eder ein 20 Kilometer langes Tal.
Darin liegen einige Siedlungen. Die Eingeborenen von Viermünden haben Wasser der Eder durch einen Kanal abgeleitet und mit Netzen Abschnitte abgetrennt. Die Eingebornen verdienen ihren Lebensunterhalt so mit der Fischzucht.
Der größte Teil des Edertals ist jedoch unbesiedelt. Wälder erstrecken sich an beiden Ufern, doch auf der rechten Seite erscheinen sie noch dunkler und dichter. Dieser Schein trügt nicht: Dort beginnt der Kellerwald, ein Gebirge, welches deutlich mehr Wald als Keller enthält.
Durch das Frühlingswasser ist die Eder angeschwollen, schätzungsweise mindestens auf das Doppelte ihrer durchschnittlichen Breite. Dadurch verwandelt sie einige Baumgruppen in Inseln.
In diesem Tal streben die Wege, die Gleise und der Fluss einem Ziel entgegen. Braune Wegweiser weisen darauf hin, auch wenn es noch ein gutes Stück bis zum berühmtesten Bauwerk an der Eder ist: einer Mauer.
Auch entdecke ich faszinierende Bauwerke aus grauem Naturstein. Die vielen Brückenbögen schienen mir fast zu pompös für solch kleine Dörfer, hier herrschte offenbar zum Zeitpunkt der Erbauung kein Geldmangel. Das kleine Türmchen am Flussufer gibt mir Rätsel auf. Es scheint noch benutzt zu werden, doch zu welchem Zweck? Es ähnelt der Wohnstatt eines eher unbedeutenden Hexenmeisters. Daher wage ich es nicht, anzuklopfen.
Ich suche mir einen Weg durch den hellen Wald am linken Ufer, um mehr von der Landschaft zu sehen. Dazu muss ich durch einige Furten furten. Trotz der angeschwollenen Bäche im Frühling ist die Strömung recht harmlos.
Als ich die Fließgeschwindigkeit der Eder messe, stelle ich fest, dass sie seit Frankenberg rapide abgenommen hat. Merkwürdig. Natürlich nimmt die Fließgeschwindigkeit von Flüssen stromabwärts immer ab, aber nicht derart schnell und so hoch oben in den Bergen. Hinzu kommt, dass die Eder immer breiter wird, als würde sie irgendetwas aufhalten. Ein Erdrutsch möglicherweise, der das Tal blockiert.
Doch des Rätsels Lösung muss warten, denn zunächst wartet ein anderes Rätsel auf mich.
An einem See entdecke ich einen verlassenen Eisenbahnwagen. Offenbar fuhren hier einstmals deutlich längere Züge als heute, und diese sahen ganz anders aus.
Schon gestern habe ich mich gefragt: Wie kann es sein, dass es hier einst so viel mehr Züge gab?
Um diesem Zeitalter der Züge näher auf den Grund zu gehen, verlasse ich die Eder und fahre mit der Eisenbahn in die Stadt Korbach, wo ich mir weitere Hinweise erhoffe. Dort folge ich dem Bahngleis aus der Stadt heraus und entdecke einen zugewachsenen Bahndamm, auf dem offensichtlich ein abzweigendes Gleis verlief. Nach kurzer Strecke auf dem alten Damm stelle ich fest: Mein Instinkt lag goldrichtig!
Ich stoße auf eine vergessene, vollständig erhaltene Bahnstrecke von Korbach nach Affoldern an der Eder: Die Ederseebahn. Die Höhenunterschiede werden mit prächtigen Bauwerken überbrückt. Brücken, Viadukte, Unterführungen und zwei kurze Tunnel, allesamt so massiv und doch seltsam filigran. Dies müssen Zeugnisse einer uralten Hochkultur sein, in der die Eisenbahn einen ganz anderen Stellenwert hatte. Eine Sensation! Es liegen fast nur winzige Dörfer an der Strecke, doch jedes hatte einen großen Bahnhof mit Rundbögen im klassizistischen Stil.
Vor lauter Begeisterung vergesse ich meine Eder-Expedition und verbringe einige Wochen damit, diese Bauwerke zu untersuchen. Irgendwann will ich zur Eder zurückkehren, doch wann immer ich mich zum Bahnhof begebe, fallen die Eisenbahnen aus. Dies zeigt den Stellenwert, den Eisenbahnen heute in diesen Landen haben. Erst nach Monaten gelingt es mir, zur Eder zurückzukehren.
Dort herrscht inzwischen eine andere Jahreszeit.
Aber das passt mir sehr gut.
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