Ems-Tag V
Der wahre violette Weg - Kindheitskaulquappen - Die Stadt der Schiffemacher - Brückolapps oder: Die Durchschnittsgeschwindigkeit deutscher Bauprojekte - Die zweite grüne Stadt - Watt is dat denn? - Warum ein Land seinen Statuen vergammelte Pflanzenwürfel und Heißgetränke in die Hände drückt und ich das überaus sympathisch finde - Die große kleine Stadt
Am vorletzten Tag durfte ich richtig viel am Wasser fahren. Hinter Lathen folgt erst einmal eine Kanalee, dann ging es am Ufer weiter. Bei Steinbild habe ich den Fluss überquert und das steinerne Bild der angestrahlten Kirche bestaunt.
Die Beschilderung konnte ich selbst im finstersten, violettesten Herbst nicht übersehen.
Eine inkonsequente Straße brachte mich nach Papenburg und irritierte mich unterwegs ein bisschen. Hier wurde einerseits ein klar abgegrenzter Radstreifen in den Gehweg gemauert und andererseits ein Fahrradsymbol auf die Fahrbahn gepinselt.
Willkommen bei den Machern lese ich am Ortseingang.
Ich habe mal in Papenburg gelebt. Da ich zu diesem Zeitpunkt allerdings zwei Jahre alt war, beschränken sich meine Erinnerungen auf
a) das orangefarbene Licht der Müllabfuhr, das sich in einer Glastür spiegelt und
b) die Kaulquappen im Tunxdorfer Waldsee. Es ist fast unmöglich, Wasser aus diesem See zu entnehmen, ohne das einem anschließend kleine schwarze Frösche in spe durch die hohlen Hände flitzen und sich wundern, warum der Waldsee auf einmal so rosa geworden ist. Irgendwie hat es mich gefreut, dass dieser See meiner Kindheit auch im Radführer als Sehenswürdigkeit markiert ist (obwohl die Kaulquappen nicht erwähnt werden).
Viele Jahre später bin ich erneut mit meiner Familie nach Papenburg gereist. Während meine Eltern jedes Dixiklo mit "Also das stand hier damals noch nicht.", kommentierten, stellte ich fest, woran ich mich alles nicht erinnerte. Dazu gehört auch das Museum Zeitspeicher. Das stand damals übrigens auch noch nicht.
Als wir an der Kasse des Zeitspeichers zahlen wollten, wurden wir einfach durchgewunken. Wir durften gratis rein. Der Strom war ausgefallen und das meiste funktionierte nicht, deshalb durften wir kostenlos durchlaufen. Es handelt sich um eine ganz interessante, interaktive Ausstellung. Also, wenn Strom da ist Strom. Thematisch dreht es sich vor allem um die Meyerwerft und das Moor, das einen großen Teil des Emslandes bedeckt (und letztes Jahr versehentlich von der Bundeswehr angezündet wurde). Das Museum könnte demnach auch Meyer and Moor heißen.
Der Stadtpark von Papenburg verfügt über ziemlich viele Tulpen und ziemlich junge Bäume. Ersteres liegt vermutlich an der Nähe zu den Niederlanden. Letzteres liegt daran, dass vor Jahren in einem Akt des Ökoterrorismus die Rinde aller Bäume runderhum abgeschnitten wurde, sodass sie abstarben.
Papenburg ist eine Fehnkolonie. Das bedeutet: Da wurden Entwässerungsgräben angelegt, damit man im Moor irgendwie wohnen kann. Die meisten Städte in der Gegend sind Fehnkolonien, aber Papenburg ist die älteste. Was genau diese Fehn denn sind, bleibt ein Rätsel, obwohl alles mögliche nach denen benannt ist, sogar der Radweg Deutsche Fehnroute.
Zwischen den Ziegeln erstreckt sich der Hauptkanal, das Herzstück der Stadt. Darauf befinden sich zwei historische Holzschiffe und etwa 7439 historische Klappbrücken, Drehbrücken, Zugbrücken und möglicherweise sogar ein paar Brücken, die sich nicht bewegen ließen.
Und doch waren die Papenburger mit dieser Menge an Überquerungsmöglichkeiten noch nicht zufrieden - neben eine der Brücken wurden zusätzlich noch große weiße Platten über den Kanal gelegt, um die Einkaufsstraße zu verbreitern. Wer es nicht hinbekommt, diesen Kanal zu überqueren, der ist echt selber Schuld. In Papenburg herrschen keine alten weißen Männer, sondern alte weiße Brücken. Das ist mal eine ganz andere Art von Innenstadt.
Anschließend holperte und glitt ich auf einer Zickzackroute aus Papenburg heraus. Dabei musste ich auch eine Schleuse überqueren. Und zwar nicht über eine Brücke - nein, so richtig über diese Wand, die nach unten fährt, wenn sich die Schleuse öffnet. Was zum Glück nicht passierte, während ich mein Fahrrad die zwei kurzen, beweglichen Treppen heruntertrug und über den schmalen Weg schob. Sonst wäre es ungemütlich, nass und schlammig geworden.
Doch allem Anschein nach war hier überhaupt nichts los. Das wunderte mich, denn nun kam ich am wahrscheinlich bekanntesten Ort von Papenburg und der gesamten Ems vorbei. Schon 1795 wurde hier die Meyerwerft gegründet, damals bauten die noch Holzschiffe. Inzwischen schrauben rumänische Leiharbeiter im größten Trockendock der Welt ganz enorme Kreuzfahrtschiffe zusammen, die normalerweise nicht aus Holz bestehen.
Der Radweg schlägt einen Panorama-Bogen um die Halbinsel aus Kränen, Containern, einem riesigen weißen Gebäude und noch so einem halb offenen Bauwerk (das ist dann wohl das Trockendock). Nachdem ich schon mehrmals gehört hatte, wie beeindruckend diese Werft doch sei, waren meine Erwartungen etwas zu hoch. Klar, das ist schon ein gewaltiger Kasten, aber solche riesigen Dinger habe ich in MV auch schon gesehen. Nun ja, seit ich eine Reportage über die Arbeitsbedingungen gelesen habe, fällt es mir zugegebenermaßen auch schwerer, mich dafür zu begeistern.
Zwar ist die Ems schon ganz schön breit, aber für Schiffe dieser Größenordnung eigentlich noch eine Nummer zu klein. Deshalb kritisieren manche, die Werft sei zu groß für Papenburg geworden und hätte längst nach Emden umziehen sollen. Stattdessen wurde die Ems angepasst.
Alle verbliebenen Brücken über die Ems sind Klappbrücken. Es verbleiben aber sowieso nur noch zwei Brücken bis zur Mündung, und eine davon ist sozusagen dauerhaft aufgeklappt. 2015 fuhr das Frachtschiff
Emsmoon mitten in die zugeklappte Friesenbrücke rein. Der Brückenwächter und der Lotse hatten sich im Funkverkehr irgendwie missverstanden.
Die Brücke wurde von der Eisenbahn, Radfahrern und Fußgängern benutzt. Nun ist sie eine Ruine, bei der das mittlere Segment fehlt. Um den Unfall zu veranschaulichen: In der Mitte befand sich ein ähnliches Stahlstück wie links und rechts, und der Frachter hat das einfach mal so stark zusammengequetscht, das es wie ein kurzes Geschwür am rechten Stück baumelte.
Bis 2024 soll hier die größte Drehbrücke der Welt entstehen, eine Hub-Drehbrücke, die sich gleichzeitig heben und drehen (und dabei vielleicht noch hupen) kann. Die alte Friesenbrücke war sowieso nicht optimal, denn für die Kreuzfahrtschiffe musste er Mittelteil jedes Mal von einem Kran ausgebaut werden.
Manche bezweifeln jedoch, dass die Brücke je wieder stehen wird. In den letzten sechs Jahren wurde schließlich gerade mal das zerquetschte Mittelstück entfernt. Da stellt sich die Frage: Wie viele Ostfriesen braucht man, um eine Brücke zu bauen?
Die Brücke gehört zu Weener, der
grünen Stadt im Rheiderland, die unbedingt einen ähnlich coolen Beinamen wie Meppen haben wollte. Wie in Papenburg gibts einen Kanal mit historischen Holzschiffen (aber ohne Brücken, denn mit Brücken hat Weener ja nicht so gute Erfahrungen gemacht). Wer dem Wasser aus der Stadt heraus folgt, erlebt im Rahmen einer fixen Zeitreise, wie das Wasser breiter und moderner wird, bis es kurz vor der Ems einen Sportboothafen beinhaltet. So ein kleines Örtchen hat heutzutage nicht mehr das Zeug zum wichtigen Handelshafen, damit der Hafen also nicht total bedeutungslos ist, dürfen reiche Leute dort ihre Boote parken.
Am historischen Ende des Kanals werden die
Törfwieven (Torffrauen) von Weener mit einer Statue geehrt. Sie hatten die Aufgabe, im Auftrag der Gemeinde den Torf aus dem Moor von den Schiffen zu laden, damit der wertvolle Brennstoff verkauft werden konnte. Damit trugen sie ganz entscheidend zum Wohlstand der Stadt bei. Der Bildhauer hat sich von einer Frau beraten lassen, die in den Fünfzigern mit ihrer Mutter und Oma noch selbst als Törfwiev tätig war.
In Weener gesellen sich auch der Nordseeküstenradweg und die Dollart-Route dazu, die sich aus irgendeinem Grund ganz schön weit von der Nordsee entfernt haben. (Wer den deutschen Nordseeradweg in Weener starten will, muss wegen der fiesen Friesenbrücke aber erstmal einen richtig weiten Umweg mit der Bahn durch die Niederlande machen.) Und damit herzlich willkommen in Ostfriesland.
Zwar durfte ich weiter neben dem Fluss radeln, aber nun ragen hohe Deiche am Flussufer auf, sodass ich trotzdem nichts von der Ems erkennen konnte. Stattdessen konnte ich durch die Bäume die erste ostfriesische Dorfkirche erkennen. Ihre beiden Vorgänger versanken in der Ems. Nun, das erklärt den hohen Deich.
Am Flussufer entstehen faszinierende Matschmuster. Hmm, woran erinnert mich das nur... ach so, natürlich! Das sieht aus wie Mini-Priele, also diese Bäche im Wattenmeer. Offensichtlich beeinflussen die Gezeiten den Fluss bereits stark, und zwar nicht nur in nautischer, sondern auch in ästhetischer Hinsicht.
An der Mündung der Leda in die Ems steht ein witziges Brückenhäuschen mit hervorstehenden Augen. Es passt genau auf, dass die Jann-Berghaus-Brücke rechtzeitig hochgeklappt wird, wenn sich ein Schiff nähert. Bisher ist es den Brückenwärter gelungen, das Schicksal der Friesenbrücke zu vermeiden.
Die Autobahn umgeht dieses Problem, indem sie sich in einen Tunnel verzieht.
Die Brücke bringt alle Reisenden direkt nach Leer. Auch hier kurvt der Radweg am Hafen entlang mitten durch das Zentrum und zeigt mehr oder weniger automatisch die schönen Seiten der Stadt. Weil in Leer schon 1992 Fahrradstraßen gebaut wurden, wurde die Stadt als fahrradfreundlichste Kommune Niedersachsens ausgezeichnet.
Und Leer hat wirklich schöne Seiten. Die hübschen Handelshäuser bilden malerische Gassen.
Ostfriesen mögen Tee, und Leeraner mögen ihn offenbar ganz besonders. Deshalb haben sie dem Tee sowohl ein Museum als auch eine Statue gewidmet. Ostfriesen stellen weibliche Statuen auf für alles, was ihnen wirklich wichtig ist: Torf und Tee.
Ich trinke auch gern Tee, aber ein anderes Museum hat mich noch mehr interessiert. Irgendwo am Stadtrand fand ich das Leeraner Miniaturland in einem eigentümlichen Gebäude - zwei moderne Hallen plus ein paar Nachbauten der typischen Altstadthäuser.
Dieses Miniaturland besteht aus vier Teilen:
- Ostfriesland (inklusive drei Inseln)
- Ammerland (also das, was Fremde auch zu Ostfriesland zählen, was aber aus Sicht der Ostfriesen definitiv nicht zu Ostfriesland gehört und deswegen in eine andere Halle verbannt werden muss)
- Berlin, diese Anlage stand früher im Berliner Einkaufscenter Alexa
- Garteneisenbahn im Außenbereich
Ammerland und Berlin sind noch nicht fertig, aber da steht schon echt viel.
Ab und zu geht das Licht aus und violette Neonröhren lassen es Nacht werden in der Minilandschaft. Anders als im Miniaturwunderland Hamburg ist dieser Tag-Nacht-Rhythmus nicht so regelmäßig: Mal wurde es abrupt hell oder dunkel, ohne dass dazwischen die Dämmerung erfolgt, ein andermal dauerte die Nacht so extralang. Für Polarnächte liegt Ostfriesland schließlich nicht weit genug im Norden, oder?
Ansonsten ist diese Anlage ein bisschen lockerer und ruhiger als die Hamburger Konkurrenz. Der Computer, von dem die Züge gesteuert werden, steht einfach so offen herum. Wer auf die Knöpfe mit Spezialeffekten (zum Beispiel Drachensteigen, Baumfällen oder Tatort-Dreh) drückt, erhält zumeist nur Geräusche und Lichter, manchmal auch eine zaghafte Bewegung, welche die Szene darstellen. Eine echt norddeutsche Anlage, etwas schweigsamer und zurückhaltender, aber deshalb nicht weniger liebevoll gemacht. Es sind auch weniger Fahrzeuge als in Hamburg unterwegs, auf den wenigen Schienen ziehen rote Regionalexpresse und weiße Intercitys durch das Land (was das Bahnnetz Ostfrieslands akkurat wiederspiegelt).
Dafür gibts besonders viele Schiffe, von denen manche sogar auf Schienen fahren.
Wie ich auf der Rückfahrt bei einem Blick durch das Bahnfenster festgestellt habe, ist das Miniland im Vergleich zu den endlosen leeren Feldern des echten Ostfrieslands immer noch extrem vollgestopft.
Die Städte Leer und Papenburg habe ich wiedererkannt, und sogar dem Emsradweg wurde richtig viel Platz eingeräumt. Aber Moment mal! Ich musste doch die ganze Zeit hinter dem Deich bleiben, so schick obendrauf durfte ich überhaupt nicht fahren. Naja, vielleicht ändert sich das ja auf der restlichen Strecke. Ein paar Kilometer sind ja noch übrig.